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Diakonie öffnet sich für Vielfalt
Das Projekt Religions- und Kultursensible Soziale Arbeit (RKS) begann im Rauhen Haus durch ein Praxisforschungsprojekt. Es wurde zwischen 2012 und 2015 in der Kinder- und Jugendhilfe des Rauhen Hauses durchgeführt, auf Initiative des damaligen Leiters Michael Tüllmann. Die Grundidee bestand darin, die Religion – in einem weit gefassten Religions- und Kulturbegriff – als eine Ressource von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien wahrzunehmen, die ihnen helfen kann, ihren Alltag besser zu bewältigen, indem Sinnfragen nicht vermieden, sondern situativ zur Sprache gebracht werden. Dieser Ansatz geht von der Heterogenität von Menschen in Glaubens- und Kulturfragen aus, er will diese sensibel, genauer differenzsensibel wahrnehmen, um damit der Verschiedenheit von Menschen gerechter zu werden.
Fachbücher und Studienmodule
Im Rauhen Haus war dieser Ansatz von Anfang an bereichsübergreifend angelegt. Er sollte schrittweise auch in der Sozialpsychiatrie, der Pflege, in der Teilhabe mit Assistenz und in den Bildungsbereichen der Stiftung umgesetzt werden. Workshops wurden durchgeführt, eine bundesweite Fachtagung mit der Diakonie Deutschland fand 2017 statt, und ein internes Fortbildungsprogramm wurde angeboten, weil man sehr bald sah: Für einen solchen, in der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit wenig verankerten Zugang müssen Kompetenzen von Fachkräften entwickelt und aufgebaut werden. Es entstand ein erstes theoretisches Fachbuch an der Ev. Hochschule, dem ein anwendungsorientiertes Praxishandbuch folgen soll. Aktuell wird eine kleine Arbeitsstelle RKS an der Ev. Hochschule des Rauhen Hauses aufgebaut, um die theoretische Fundierung voranzubringen und Praxisevaluationen durchzuführen. In verschiedenen Studiengängen werden mittlerweile vertiefende Module zu RKS angeboten, insbesondere auch im praxisintegrierenden Studiengang Soziale Arbeit, der Fachkräfte für den öffentlichen Dienst (ASD, Schulsozialarbeit u.a.) und bei freien Trägern in einem dualen Modell ausbildet. Für die Stiftung Das Rauhe Haus steht als nächster Schritt die strategische Verankerung Religions- und Kultursensibler Sozialer Arbeit in allen Stiftungsbereichen an. Strategisch ist dieser Schritt deshalb wichtig, weil er künftig stärker mit der Frage der diakonischen Identität des Unternehmens Das Rauhe Haus zusammengedacht werden soll.
Wie sich das diakonische Profil verändert
Die Identität oder das Profil diakonischer Einrichtungen wurde noch bis in die 1990er-Jahre oft recht vollmundig formuliert. In Leitbildern und mission statements wurde der diakonische Auftrag in der Nachfolge Jesu gerne als quasi missionarischer Auftrag verstanden, dem Mitarbeitende in der Diakonie folgen (sollen). Das in Leitbildern gerne genutzte „Wir“ suggerierte, dass alle Mitarbeitenden ihren Auftrag mehr oder weniger aus dieser christlichen Grundlage ableiten und legitimieren – auch deshalb war die Kirchenmitgliedschaft verpflichtende Voraussetzung im Arbeitsvertrag. Dies hat sich geändert – nicht nur im Rauhen Haus. Diakonie ist Teil einer säkularisierten Gesellschaft, in der immer weniger Menschen einer institutionell organisierten Religionsgemeinschaft angehören, in der aber gleichzeitig Religion und kultureller Hintergrund eine immer größere Rolle spielen – nicht zuletzt durch Einwanderung und Migrationsbewegungen. Die Diakonie hat sich der Vielfalt geöffnet. In einem ersten Schritt der Vielfalt der Klientinnen und Klienten, in einem weiteren Schritt (der noch nicht zu Ende gegangen ist) der Vielfalt und Heterogenität auch der Mitarbeitenden. Formal geschah dies mit der weitgehenden Auflösung der Kirchenmitgliedschaftsverpflichtung für die Mitarbeitenden, seit 2020 gilt dies mit definierten Ausnahmen auch für das Rauhe Haus. Wichtige Treiber waren sicher auch der Fachkräftemangel und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom April 2018, demzufolge das Verlangen einer Kirchenzugehörigkeit bei Stellenausschreibungen „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sowie gerichtlich überprüfbar sein muss. Unabhängig vom arbeitsrechtlichen Hintergrund bedeutet dies für diakonische Unternehmen: Sie müssen inhaltlich umdenken – vom o. g. „Wir“, das die Mitarbeitenden religiös vereinnahmt, hin zu einem „Wir“ der Organisation, die sich in ihren handlungsleitenden Sätzen zu ihrer Tradition und ihrem biblischen Auftrag am Menschen bekennt, einen Wertehorizont als Orientierungsrahmen für das Handeln als Organisation benennt und diesen auch in strategischen Entscheidungen umsetzt.
Aus: Lebenswelten im Dialog - Glaubens- und kultursensible Praxis in Hamburg-Mitte
1. Auflage, Hamburg 2020 ISBN 978-3-00-066814-2